28. November 2006

Bernhard Schmidt, "Der Vorleser". Diogenes

Erster Teil

1. Das Erbrechen
an einem Morgen im Oktober

Als er fünfzehn war, hatte er Gelbsucht. Die Krankheit begann im Herbst und endete im Frühjahr. Erst mit dem neuen Jahr ging es aufwärts. Sein erster Weg führte ihn von der Blumenstraβe, in der seine Familie wohnte, in die Bahnhofstraβe. Dort hatte er sich an einem Montag im Oktober auf dem Weg von der Schule nach Hause übergeben. Da stürzte er sich an die Hauswand, sah auf das Erbrochene zu seinen Füβen und würgte hellen Schleim. Eine Frau nahm sich seines an. Sie nahm seinen Arm und führte ihn durch den Hausgang in den Hof. Da drehte sie einen Hahn auf, wusch zuerst seine Hand und klaschte ihm dann Wasser ins Gesicht. Am selben Tag holte seine Mutter den Arzt, der Gelbsucht diagnostizierte. Irgendwann erzählte er seiner Mutter von der Frau. Für sie war selbstverständlich, daβ er, sobald er konnte, von seinem Taschengeld einen Blumenstrauβ kaufen, sich vorstellen und bedanken würde. So ging er Ende Februar in die Bahnhofstraβe.

2.
Das Haus in der Bahnhofstraβe steht heute nicht mehr. Immer wieder träumte er in späteren Jahren von dem Haus.

3. Der Blumenstrauβ
an einem Tag Ende Februar

Mit dem Blumenstrauβ in der Hand stand er vor der Tür und den Klingeln. Da kam ein Mann aus dem Haus, fragte, zu wem er wolle, und schickte ihn zu Frau Schmitz im dritten Stock. Sie führte ihn in die Küche. Frau Schmitz bügelte. Sie bügelte auch ihre Unterwäsche, und er wollte nicht hinschauen, konnte aber auch nicht wegschauen.

4. Frau Schmitz zieht sich um

Als er aufstand und gehen wollte, bat sie ihn, er möge warten, weil sie auch los muβte und ein Stück mitkommen wollte. Er wartete im Flur. Sie zog sich in der Küche um. Die Tür stand einen Spalt auf. Er konnte die Augen nicht von ihr lassen. Sie spürte seinen Blick. Er wurde rot. Er hielt es nicht aus, stürzte aus der Wohnung, rannte die Treppe hinunter und aus dem Haus.

5. „Ich wollte auch die sündige Tat“
eine Woche später (Frühjahr - März)

Eine Woche später stand er wieder bei ihr vor der Tür.

6. Das Bad nach dem Kohletragen
am Nachmittag

Frau Schmitz war nicht zu Hause. Er setzte sich auf die Stufen und wartete. Sie kam dann zu Hause an, trug eine Uniform. Sie war Straβenbahnschaffnerin. Sie bat ihn darum, Kohle zu holen. Der Berg ging runter und er wurde schmutzig. Er zog sich aus und badete. Sein Geschlecht wurde steif. Er wandte ihr den Rücken und sie trocknete ihn. Sie liebten sich.

7. Michael verliebt sich
am nächsten Tag / in der folgenden Nacht

In der folgenden Nacht verliebte er sich in sie. Am nächsten Tag ging er wieder in die Schule und am Abend zu Frau Schmitz. Als er von ihr nach Hause kam, saβen seine Eltern und Geschwister schon beim Abendessen. Da sagte er, er habe sich verirrt. Er habe einen Spaziergang über den Ehrenfriedhof zur Molkenkur geplant, sei aber lange nirgendwo und schlieβlich in Nuβloch angekommen. Er habe kein Geld gehabt und muβte von Nuβloch nach Hause laufen (Er hat eine ältere und eine jüngere Schwester und einen drei Jahre älteren Bruder. Der Vater war Professor für Philosophie)

8. Michael macht blau
in den nächsten Tagen

In den nächsten Tagen hatte Frau Schmitz Frühschicht. Sie kam um zwölf nach Hause, und er schwänzte Tag auf Tag die letzte Stunde. Sie duschten und liebten sich, und kurz vor halb zwei zog er sich hastig an und rannte los. Un halb zwei wurde Mittag gegessen. Am Sonntag gab es das Mittagessen schon um zwölf, begann und endete aber auch ihre Frühschicht später. Am sechten oder siebten Tag fragte er sich nach ihrem Namen. Sie heiβe Hanna. Er heiβe Michael. Er glaubte, sie wuβte das, denn sein Name war auf seinen Schulsachen geschrieben. Als er andeutete, dass er schwänzte und dass er in der Untersekunda sitzen bleiben würde, wurde sie sehr böse und machte ihn fast raus von ihrem Haus, weil er seine Arbeit nicht machte und blöd fand. Er begriff die Reaktion nicht ganz.

9. Hannas Vergangenheit:
„was du alles fragst? was du alles wissen willst Jüngchen!“
in den nächsten Wochen (April)

Erstes Zeichen, das die Geschichte nicht gut enden wird, denn er ist traurig, wenn er an damals denkt. Aber in den nächsten Wochen war er glücklich. Da arbeitete er wie blöd und schuf die Klasse. Sie liebten sich, als zählte sonst nicht auf der Welt. Sie wurde aber unruhig, als er nach ihrer Vergangenheit fragte. Sie war in Siebenbürgen aufgewachsen, mit siebzehn nach Berlin gekommen, Arbeiterin bei Siemens geworden und mit einundzwanzig zu den Soldaten geraten. Seit der Krieg zu Ende war, hatte sie sich mit allen möglichen Jobs durchgeschlagen. An ihren Beruf als Schaffnerin, den sie seit ein paar Jahren hatte, mochte sie die Uniform und die Bewegung, den Wechsel der Bilder und das Rollen unter den Füβen. Sonst mochte sie ihn nicht. Sie hatte keine Familie. Sie war sechsunddreiβig[1]. Ebenso war es mit der Zukunft. Sie mochte nicht einmal bis Ostern denken, wo sie in den Ferien mit dem Fahrrad wegfahren wollten. Seit ihrem Gespräch waren ihre Treffen an Nachmittag. Um sieben wurde zu Abend gegessen. Nach einer Weile fing Michael an, Ausreden zu erfinden und das Abendessen auszulassen. Das lag am Vorlesen. Er muβte ihr eine halbe Stunde lang „Emilia Galotti“ vorlesen, ehe sie ihn unter die Dusche und ins Bett nahm. Vorlesen, duschen, lieben und noch ein biβchen beieinanderliegen wurde das Ritual ihrer Treffen.

10. Erster Streit
am ersten Tag der Osterferien

Am ersten Tag der Osterferien stand Michael um vier Uhr auf. Hanna hatte Frühschicht. Sie fuhr um halb fünf mit der Bahn nach Schwetzingen. Er stieg bei der zweiten Haltstelle zu. Im ersten Wagen stand Hanna beim Fahrer. Hanna ging nicht zu Michael, obwohl sie gesehen haben muβte, dass er eingestiegen war. Die Bahn fuhr in Eppelheim vorbei. Dann sah Michael eine Haltstelle. Er zog die Leine und die Bahn hielt. Weder Hanna noch der Fahrer hatten auf das Klingelzeichen hin nach ihm geschaut. Als er austieg, war ihm, als sähen sie ihm lachend zu. Er machte den Weg nach Hause zu Fuβ. Er erwartete sie um zwölf auf dem Treppenabsatz vor ihrer Wohnung. Als sie ankam, fragte er sie, warum sie getan habe, als kenne sie ihn nicht. Sie aber denkt, er habe sie nicht kennen wollen. Das war alles ein Miβverständnis gewesen. Trotzdem forderte sie ihn auf, wegzugehen. Sei war gekränkt. Nach einer halbe Stunde war er aber wieder bei Hanna. Er hatte kapituliert, als sie drohte, ihn zurückzuweisen. Er empfand, als sie sich nach der Wärme meiner Entschuldigungen, Beteurerungen und Beschwörungen sehne. Ein- oder zweimal hatte er ihr lange Briefe geschrieben, aber sie reagierte nicht.

11. Streit im Amorbach
in der Woche nach Ostern

In der Woche nach Ostern fuhren sie nach Osten mit dem Fahrrad weg, vier Tage Wimpfen, Amorbach und Miltenberg. Da er auch für Hanna zahlen wollte, bot er seine Briefmarkensammlung im Briefmarkengeschäft bei der Heiliggeistkirche zum Verkauf. Er bekam siebzig Mark. Als er ihr auf der Karte die Route zeigen wollte, die er sich überlegt hatte, wollte sie nichts hören und nichts sehen. Sie brachen am Ostermontag auf. In der Rheinebene blühten die ersten Obstbaüme. Im Odenwald gingen die Forsythien auf. Oft zeigten sie sich, was sie sahen, zum Beispiel den amerikanischen Straβenkreuzer. Wenn sie eine andere Richtung und Straβe nahmen, muβte Michael vorausfahren. Sie wollte sich um Richtungen und Straβen nicht kümmern. Er suchte auch die Gasthöfe aus, trug sie als Mutter und Sohn in die Meldezettel ein und wählte auf der Speisekarte nicht nur für sich, sondern auch für sie das Essen aus. Den einzigen Streit hatten sie in Amorbach. Er wollte das Frühstück hochbringen und eine Rose für Hanna kaufen. Er hatte ihr einen Zettel auf den Nachttisch gelegt. Als er wiederkam, stand sie im Zimmer, zitternd vor Wut. Sie hatte den schmalen ledernen Gürtel in der Hand und zog ihn ihm durchs Gesicht. Sein Hemd wurde voller Blutt. Sie zog es ihm aus, dann die Hose und dann zog sie sich aus und sie liebten sich. Danach lügte sie und sagte, sie habe keinen Zettel gesehen. Schlieβlich bat sie ihn darum, das Vorlesen von Eichendorffs „Taugenichts“ fortzufahren.


12. Im Arbeitszimmer vom Michaels Vater
in der letzten Ferienwoche


Michael wollte in der letzten Ferienwoche allein zu Hause bleiben. Aber wenn er zu Hause bliebe, wollte seine kleinere Schwester auch zu Hause bleiben. Wenn er dann sie fragte, was sie haben wolle, damit sie zu einer Freundin gehe, während er zu Hause bliebe, verlangte sie Jeans und einen Nicki. Wenn er da erwiderte, dass er kein Geld habe, antwortete sie, dass er sie klauen solle. Am Tag darauf klaute er auch für Hanna ein seidenes Nachthemd. An einem Abend lud Michael Hanna zum Abendesse ein. Im Arbeitszimmer schaute sich Hanna die Bücherregale. Er las ihr aus dem Kant-Buch seines Vaters. Nach dem Nachtische gingen sie zu ihr, wo er ihr das seidenen Nachthemd schenkte.

13. Beginn des neuen Schuljahres
Sommer


Michael Berg wechselte von der Unter- in die Obersekunda. Zum erten Mal wurden in seinem Gymnasium auch Mädchen aufgenommen. Da hatte er im Unterricht eine neue Nachbarin, Sophie, die ihn anlächelte . Der Sommer fing in der neuen Klasse gut an. Im Klassezimmer konnte man durch das Fenster den Heiligenberg sehen. Sie übersetzten die Odysee. Die hatte Michael auf Deutsch schon gelesen.

14. Streit nach dem Schwimmbad
Michaels Geburtstag im Juli


Sie erdachten Kosennamen für einander. Einmal fragte sie ihn, an was für ein Tier er denke, wenn er sie im Arm halte. Als er ihr antwortete, dass er an ein Pferd denke, wurde sie wütend. Als der Sommer kam, ging Michael immer öfter ins Schwimmbad. Dort trafen sich die Klassenkameradinnen und –kameraden. Am Michaels Geburtstag wurde im Schwimmbad gefeiert. Als er später als gewohnt zu Hanna ankam, wurde er von ihr schlecht gelaunt empfangen. Sie wuβte auch nicht, dass sein Geburtstag war. Ihre schlechte Laune ärgerte Michael und auch er reagierte schlecht gelaunt. Sie gerieten in Streit. Da kam wieder Michaels Angst, sie zu verlieren, und er erniedrigte und entschuldigte sich.

15. Michaels Vertrauen zu Sophie


Michael begann, Hanna zu verraten. Bald wurde er mit Sophie vertraut, die wenige Straβen weiter wohnte und mit der er daher den Weg zum Schwimmbad gemeinsam hatte. An einem Abend gerieten sie bei der Heimfaht in ein Gewitter und stellten sich im Neuenheimer Feld. Sie froren und Michael legte den Arm um sie. Trotz des Vertrauen zu Sophie, moche er, wo es um Hanna ging, ihr nicht sagen, was ihm zu schaffen machte.

16. Hanna im Schwimmbad
an einem Tag Ende Juli – Anfang August,
in den letzten Tagen vor den groβen Ferien


Michael sah Hanna nur einmal unverabredet. Es war Ende Juli oder August, die letzten Tagen vor den groβen Ferien. Sie war tagelang launisch und herrisch und zugleich unter einem Druck, der sie qüalte und empfindlich, verleztlich machte. Michael hatte sie versprochen, sich um ein neues Buch zu kümmern. Sie hatte mehrere Bücher zur Auswahl dabei, aber sie wollte nicht. Als sie sich liebten, hatte Michael das Gefühl, sie wollte ihn zu Empfindungen jenseits alles bin zu diesem Moment Empfundenen treiben. Es war als wollte sie mit ihm ertrinken. Eines Tages sah Michael Hanna unverabredet im Schwimmbad. Sie stand zwanzig bis dreiβig Meter entfernt. Sie schaute zu ihm herüber und er schaute zurück. Er sprang nicht auf und lief auch nicht zu ihr. Als er aufstand und dabei einen kurzen Moment den blick von ihr lieβ, war sie gegangen.

17. Hanna ist weg
Am nächsten Tag

Am nächsten Tag war sie weg. Von der Telefonzelle am Wilhelmsplatz rief Michael die Straβen- und Bergbahngesellschaft an. Er erfuhr, dass Hanna nicht zur Arbeit gegangen war. Die Eigentümer des Hauses in der Bahnhofstraβe wohnten in Kirchheim. Sie sagten ihm, dass Frau Schmitz an jenem Morgen ausgezogen sei. Im Verwaltungsgebäude der Straβen- und Bergbahngesellschaft teilte ihm der Personalchef mit, dass er sie vor vierzehn Tage angeboten hatte, sie zur Fahrerin auszubilden und dass sie alles hingeschmieβen hatte. Beim Einwohnermeldeamt erfuhr Michael, dass sie sich ohne Angabe einer Anschirft nach Hamburg abgemeldet hatte. Michael fühlte sich daran schuldig, nicht sofort im Schwimmbad zu ihr gelaufen zu sein, sie verleugnet und verraten zu haben.
[1]
1908 Michaels Mutter, 21. Oktober 1918 Hanna Schmitz Siebenbürgen, 1935 17 Berlin, Siemens, 1939 21 zu den Soldaten, Juli 1939 Michael, 1945 27 Kriegsende, 1954 Zeit des ersten Teils der Geschichte (Hanna 36, Michael 15)

* * *
Zweiter Teil

1. Rechtswissenschaft, Jura
Nachdem Hanna die Stadt verlassen hatte
Ein halbes Jahr später, nach dem Hanna die Stadt verlassen hatte, zog Michaels Familie in einen anderen Stadtviertel. Während der letzten Jahren auf der Schule und die ersten auf der Universität war er glücklich. Er studierte Rechtswissenschaft. Bald nachdem Hanna die Stadt verlassen hatte, wurde bei Sophie Tuberkulose diagnostiziert. Danach hatten sie eine Liebesbeziehung, wo er sich sehr kalt zeigte.

2. Das KZ-Seminar[1]
Das Seminar begann im Winter, die Gerichtsverhandlung im Frühjahr

Er sah Hanna im Gerichtssaal wieder. Das war während einem KZ-Prozeβ. Der Professor, der damals über die Nazi-Vergangenheit und die einschlägigen Gerichtsverfahren arbeiteten, hatte ihn zum Gegenstand eines Seminars gemacht. Im Seminar wurde über das Verbot rückwirkender Bestrafung diskutiert. Das Seminar begann im Winter, die Gerichtsverhandlung im Frühjahr. Sie zog sich über viele Wochen hin. Die Generation, die die Wächter und Schergen nicht ausgestoβen hatte, als sie nach 1945 hätte antoβen können, stand vor Gericht, und die Seminarstudenten verurteilten sie in einem Verfahren der Aufarbeitung und Aufklärung zu Scham. Michaels Vater hatte eine Stelle als Dozent der Philosophie verloren und sich als Lektor eines Verlags für Wanderkarte und –bücher durch den Krieg gebracht.

3. Beginn der Gerichtsverhandlung, Hanna wird vernommen
Frühjahr, 1965
Die Gerichtsverhandlung war in einer anderen Stadt. Die hatte am Montag begonnen. Es war Donnerstag. Die ersten drei Verhandlungstage waren mit Befangenheitsanträgen der Verteidiger vergangen. Die Gruppe, in der Michael war, war die vierte Gruppe, die mit der Vernehmung der Angeklagten zur Person den eigentlichen Beginn der Verhandlung erlebte. Das Gericht bestand aus drei Richter und sechs Schöffen. Hanna saβ mit dem Rücken zu den Studenten. Michael erkannte sie sofort. Hanna sei am 21. Oktober 1922 bei Hermannstadt geboren worden. Sie habe in Berlin bei Siemens gearbeitet und sei im Herbst 1943 zur SS gegangen. Die SS habe bei Siemens Frauen für den Einsatz im Wachdienst geworben, dafür habe sie sich gemeldet und dafür sei sie eingestellt worden. Sie war bis Frühjahr 1944 in Auschwitz und bis Winter 1944/1945 in einem kleinen Lager bei Krakau eingesetzt. Sie sei mit den Gefangenen nach Westen aufgebrochen und dort auch angekommen. Sie sei bei Kriegsende bei Kassel gewesen und seitdem hier und dort gewohnt. Acht Jahre hatte sie in Michaels Heimatstadt gewohnt. Sie hatte auf kein Schreiben und keine Ladung reagiert, nicht vor der Polizei, nicht vor dem Staatsanwalt und nicht vor dem Richter erschienen. Der Haftrichter hatte diesem Umstand die Bedeutung zugemessen, Hanna hatte bisher zu fiehen versucht und die vorgeworfenen Taten verdunkelt. Obwohl das zwei Haftgründe waren, stellte der Antwalt einen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls. Das Gericht lehte ihn ab.

4. Betäubung
Hanna sah nur einmal ins Publikum und zu Michael hin

Es kam Reisefreude auf, als in der Verhandlung eine Reise nach Israel besprochen wurde, wo eine Zeugin vernommen werden sollte.
Michael beschäftigt sich mit der Gemeinsamkeit des Betäubtseins, des Innerlich-Nicht-Beteiligtseins. Das hatte sich nicht nur auf Täter und Opfer gelegt, sondern auch auf Richter, Schöffen, Staatsanwälte, Protokollanten, Lebende, Überlebende und Nachlebende.

5. Verlesung der Anklage
Frühjahr 1944 – Winter 1944/45
Hanna als Aufseherin in einem Lager bei Krakau

In der zweiten Woche wurde die Anklage verlesen. Die Verlesung dauerte eineinhalb Tage. Hanna war die Angeklagte zu vier. Die fünf angeklagten Frauen waren Aufseherinnen in einem kleinem Lager bei Krakau gewesen, einem Auβenlager von Auschwitz. Sie waren im Frühjahr 1944 von Auschwitz dorhin versetzt worden. Die meisten Wachmannschaften und Aufseherinnen hatten die Bomben nicht überlebt, die eines Nachts den Zug der Gefangenen nach Westen beendeten. Einige hatten sich in derselben Nacht abgesetzt und waren ebenso unauffindbar wie der Komandant, der sich schon davon gemacht hatte, als der Zug nach Westen aufbrach. Von den Gefangenen hatte eigentlich keine die Nacht der Bomben überleben sollen. Aber es gab doch zwei Überlebende, Mutter und Tochter, und die Tochter hatte ein Buch über das Lager und den Zug nach Westen geschrieben und in Amerika veröffentlicht. Die wichtigsten Zeugen waren die Tochter, die nach Deutschland gekommen, und die Mutter, die in Israel geblieben war. Der eine Hauptanklagepunkt galt den Selektionen im Lager (s. 102). Der andere Hauptanklagepunkt galt der Bombennacht mit der alles zu Ende ging (s.103).

6. „Für Hanna lief die Verhandlung sehr schlecht

Nach der Verlesung der Anklage meldete sich Hanna, weil etwas nicht stimmte; der Vorsitzende Richter wies sie irritiert zurecht, vor Eröffnung des Hauptverfahrens habe sie die Anklage lange genug studieren und die Einwendungen erheben können. Als zu Beginn der Beweisaufnahme der Vorsitzende Richter vorschlug, auf die Verlesung der deutschen Fassung des Buchs der Tochter zu verzichten, da sie, von einem deutschen Verlag zur Veröffentlichung vorbereitet, allen Beteiligten im Manuskript zugänglich gemacht worden war, muβte Hanna von ihrem Anwalt dazu überreden werden, sich einverständen zu erklären. Sie wollte auch nicht akzeptieren, dass sie bei einer früheren richterlichen Vernehmung zugegeben hatte, den Schlüssel zur Kirche gehabt zu haben (b). Bei ihrer Vernehmung zu den Selektionen im Lager beschrieb Hanna, dass sich die Aufseherinnen verständigt hatten, aus ihren sechs gleich groβen Zuständigkeitsbereichen gleich groβe Gefangenzahlen zu melden, jeweils zehn und insgesamt sechzig, dass alle diensthabenden Aufseherinnen letzlich gemeinsam beurteilten, wer zurückgeschickt werden sollte (a).

7. Hannas Schützlinge
Die Beweislage für die Angeklagten war günstig. Beweismittel für den ersten Hauptanklagepunkt waren ausschlieβlich das Zeugnis der überlebenden Mutter, ihrer Tochter und deren Buch. Ähnlich war es beim zweiten Anklagepunkt. Die Tochter erinnerte sich plötzlich daran, dass Hanna im Lager ihre Schützlinge hatte. Sie habe Lieblinge gehabt. Eines Tages hätten sie gewuβt, dass die Mädchen ihr vorgelesen hätten. Da drehte sich Hanna um und sah Michael an. So merkte er, dass sie die ganze Zeit gewuβt hatte, dass er da war. Als Michael unter ihrem Blick rot wurde, wandte sie ihn ab und kehrte sich wieder der Gerichtsbank zu.

8. Die Bombennacht
Winter 1945
Die deutsche Fassung des Buchs, das die Tochter über ihre Zeit im Lager geschrieben hatte, erschien erst nach dem Prozeβ. Hanna kommt im Buch weder mit Namen noch sonst erkenntbar und identifizierbar vor. Aber in einem Lager hatte die Tochter eine Aufseherin erlebt, die „Stute“ gennat wurde. Michael fragt sich, ob Hanna davon gewuβt habe, ob sie sich daran erinnert habe und darum betroffen gewesen sei, als er sie mit einem Pferd verglichen habe. Das Lager bei Krakau war für Mutter und Tochter die letzte Station nach Auschwitz. Das Elend begann mit der Auflösung des Lagers und dem Aufbruch der Gefangenen nach Westen. Es war Winter, es schneite, und die Kleidung und das Schuhwerk war ganz unzureichend. Nach einer Woche war fast die Hälfte der Frauen tot. Die Kirche war ein besseres Obdach als die Scheunen und die Mauern, die die Frauen davor gehabt hatten. Die Bomben fielen in der Nacht, während die Frauen schliefen. Die meisten Frauen sind nicht erstickt, sondern in den hell und laut lodernden Flammen verbrannt. Mutter und Tochter überlebte, weil die Mutter aus den falschen Gründen das Richtige tat. Sie floh auf die Empore, die war so schmal, dass sie vom brennenden Gebälk kaum getroffen wurde.

9. „Warum haben Sie nicht aufgeschlossen?“
Der vorsitzende Richter stellte einer Angeklagte nach der anderen dieselbe Frage. Eine Angeklagte nach der anderen gab dieselbe Antwort. Sie habe nicht aufschlieβen können. Der Vorsitzende Richter machte einer Angeklagten nach der anderen denselben Vorhalt. Der Bericht lese sich anders. Er erwähnte, dass Aufseherinnen zurückgeblieben waren, um das Ende der Brände abzuwarten, ein Übergreifen der Brände und Fluchtversuche im Schutz der Brände zu verhindern. Sie hätten den Brand in der Kirche toben lassen und die Türen der Kirche geschlossen gehalten. Nein, sagte eine Angeklagte nach der anderen, so sei es nicht gewesen. Der Bericht sei falsch. Bis die behäbig-gehässige Angeklagte dran war. Der Vorsitzender Richter solle Hanna fragen. Sie habe den Bericht geschrieben. Sie sei an allem Schuld und mit dem Bericht habe sie das vertuschen und sie reinziehen wollen. Als der Vorsitzende Richter Hanna darüber fragte, lehnte sie ab, den Bericht geschrieben zu haben. Ein Staatsanwalt schulg vor, einen Sachverständigen die Schrift des Berichts und die der Angeklagten miteinander vergleichen zu lassen. Da sagte sie, dass keine Sachverständige brauchen geholt werden. Sie gebe zu, den Bericht geschrieben zu haben.

10. Hannas Geheimnis
An die freitäglichen Seminarsitzungen hat Michael keine Erinnerung. Aber er erinnert sich an die Sonntage. An den Sonntagen ist er losgelaufen: Heidelberg, Michaelsbasilika, Bismarckturm, Philosophenweg, Fluβufer. Er hat die Stelle im Wald wiedergefunden, wo sich ihm Hannas Geheimnis enthüllte. Hanna konnte nicht lesen und schreiben. Michael habe sehr oft die Frage gestellt, ob Hannas Scham, nicht lesen und schreiben zu könne, der Grund für ihr Verhalten im Prozeβ und im Lager sei, ob ihr aus Angst vor der Bloβstellung als Analphabetin die Bloβstellung als Verbrecherin lieber war. Nach Michaels Meinung akzeptierte sie, dass sie zur Rechenschaft gezogen wurde, wollte nur nicht überdies bloβgestellt werden. Michaels sei auch schuldig, weil er eine Vebrecherin geliebt habe.

11. Michaels neue Rolle
Indem Hanna zugab, den Bericht geschrieben zu haben, gestand sie auch, entscheiden zu haben. Die Bewohner des Dorfs, die als Zeugen aussagten, konnten das weder bestätigen noch wiederlegen. Sie wuβten nicht zu sagen, ob überhaupt eine Angeklagte den Ton angegeben hatte. Auβerdem entlastete die Existenz einer Führerin die Bewohner des Dorfs. Michael konnte zum Vorsitzender Richter gehen und ihm sagen, dass Hanna Analphabetin war.

12. das Gespräch mit dem Vater
Michael beschloβ, mit seinem Vater zu reden. Das Haus, in das Michaels Familie Anfang der sechziger Jahre gezogen und in dem seine Eltern wohnen geblieben sind, als die Kinder groβ waren, lag über der Stadt am Hang.

13. Israel
Juni, 1965 – 1993/95
In Juni flog das Gericht für zwei Wochen nach Israel.

Auschwitz, Birkenau, Bergen-Belsen
Fernsehserie „Holocaust“,
Spielfilme „Sophies Wahl“ und „Schindlers Liste“ (1993)

14. KL Struthof im Elsaβ, Juni 1965
Michael beschloβ wegzufahren. Wenn er von heute auf morgen nach Auschwitz hätte fahren können, hätte er es gemacht. Aber ein Visum zu bekommen, dauerte Wochen. So ist er zum Struthof ins Elsaβ gefahren. Es war das nächste Konzentrationslager. Er war getrampt und erinnert sich an eine Fahrt in einem Lastwagen.

15. KL Struthof im Elsaβ, Winter 1993/95
Michael ist unlängst noch mal zum Struthof gefahren. Es war Winter, ein klarer, kalter Tag. Der Lager war geschlossen. Er erinnerte sich an seinen damaligen Versuch, sich ein volles Lager vorzustellen. Aber es war alles vergeblich. Michael wollte Hannas Verbrechen zugleich verstehen und verurteilen. Aber es war dafür zu furchtbar. Die fremde Welt der Konzentrationslager war ihm nicht nähergerückt.

16. Rückkehr in den Alltag
Michael ging zum Vorsitzenden Richter. Daraus wurde aber nichts. Am Feierabend spürte er im Zug, wie sich die Betäubung auf die Gefühle und Gedanken der letzten Wochen legte. Er empfand, dass es richtig war, dass es ihm ermöglichte, in seinen Alltag zurückzukehren und in ihm weiterzuleben.

17. Verkündung des Urteils
Ende Juni 1965
Ende Juni wurde das Urteil verkündet. Hanna bekam lebenslänglich. Die anderen bekamen zeitliche Freiheitsstrafe. Bei der Verlesung der Begründung des Urteils saβ sie. Als die Verhandlung beendet war, wartete Michael, ob Hanna zu ihm schauen würde.

[1] s Konzentrationslager (KZ), r Nazi, -s (Nationalsozialismus), r Jude, -n; s Auβenlager; e Wehrmacht, r Komandant, r Offizier, -e; r Wächter; r Scherge; r Aufseher, in, e Wachmannschaft, r Wachturm, -¨e; e SS (Schurzstaffel), die Waffen-SS; r KZ-Häftling; r Gefangene; e Baracke, -n; e Zelle, -n, r Zellenbau; r Apellplatz; r Maschen-, Stacheldraht, -¨e, r Stacheldrahtzaun, -¨e; s Gas (ins Gas schicken), e Vergasung, e Gaskammer; e Verbrennung, r Verbrennungs-, Krematiriumsofen, -¨; e Vernichtung der Juden; r Überlebende; e Befreiung; e Alliierten

s Recht, e Rechtswissenschaft, Jura ;s Gericht (vor Gericht stehen), s Schwurgericht, r Richter, r Vorsitzender (r Vorsitzende Richter), r Schöffe, r Haftrichter, r Gerichtssaal, s Gerichtsverfahren, e Gerichtsverhandlung, e Gerichtsbank; r Prozeβ; e Anklage (jdn. wegen etw./ einer Sache anklagen), Anklage erheben, e Anklage verlesen, r Hauptanklagepunkt, e Verlesung, r Vorwurf (vorwerfen), r vorgeworfenen Tat, r Angeklagte, -n; s Verdacht; r Anwalt, r Staatsanwalt, r Verteidiger, r Plichtverteidiger; s Zeugnis, r Zeuge, -in (als Zeuge aussagen; die Aussage des Zeuges, e Zeugenaussage); r Beweis, -(s)e, e Beweissaufnahme; -n; r Täter, s Opfer; r Mandant, -in; jdn. In einem Gerichtsverfahren (zu Scham) verurteilen, s Urteil, s Fehlurteil, e Verurteilung, e Begründung des Urteils, e Verkündung des Urteils (ein Urteil verkünden); jdn. vernehmen; die Vernehmung; r Haftgrund; e Schuld, e Unschuld; r Freispruch; das Verbrechen, der Verbrecher, -in (ein Verbrechen begehen); e Gerechtigkeit; e Bestrafung, e Strafe (lebenslängliche, zeitliche Freiheitsstrafe, -n)

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